Systeminnovation für nachhaltigere Lederchemie
In short:
- In order to change the global leather supply chains a system view is necessary.
- A multi-stakeholder scenario process with industry, NGOs and academia resulted in a scenario story creating a shared positive vision for leather chemistry in 2035.
- Strategy workshops and a “Theory of Change” facilitated identification of specific steps to take in order to move towards the described scenario.
Wenn es darum geht eine „nachhaltigere Chemie“ in den Lederlieferketten zu erreichen, steht die Branche vor komplexen Herausforderungen. Um diese zu überwinden, ist es mit technischen Innovationen – z.B. neue biobasierte Gerbchemikalien, optimierte Prozessabläufe – alleine nicht getan. Vielmehr ist die Anreizsituation der Akteure im globalen Kontext zu analysieren, diese Technologien auch anzuwenden. Zudem sind Fragen des Managements der Lieferketten zentral. So zeigt sich, dass Zwang und etwa vertragliche Pflichten nur bedingt den erwünschten Effekt erzielen, dass Lieferanten vom Kunden spezifizierte Chemikalien nach Maßgabe konkreter Anforderungskataloge anwenden.
Erforderlich scheinen vielmehr innovative Kooperationsformen entlang der Lieferkette. Zudem bedarf es eines gewissen Grads an Formalisierung der neuen Regeln, sei es durch private Governance-Initiativen der Branche, Normung oder gesetzgeberische Aktivitäten. Dieser Dreiklang aus technischen, sozialen bzw. organisationalen sowie institutionellen Innovationen zeigt die verschiedenen relevanten Perspektiven einer „Systeminnovation“. Auch für die Transformation in Richtung einer nachhaltigeren Chemie in den Lederlieferketten ist ein systemisches Vorgehen erforderlich. Diesem Grundverständnis folgt das Lederprojekt der Hochschule Darmstadt. Damit orientiert es sich am Stand der Wissenschaft im Kontext der Transformationsforschung.
Systemblick und Visionsbildung mit der Szenario-Technik
Auf dem Weg zur Systeminnovation bedarf es zunächst eines gemeinsamen Verständnisses der Herausforderungen, vor denen wir stehen, sowie, darauf aufbauend, der Entwicklung einer gemeinsamen Vision. Auf einem Workshop im Oktober 2018 in Darmstadt mit Vertreterinnen und Vertretern entlang der Lederlieferkette (Chemie, Gerbunternehmen, verarbeitende Industrie, Handel) und weiteren Stakeholdern wie NGOs sowie aus der Politikberatung (u.a. Südwind, Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit/GIZ) beschlossen die Akteure, zu diesem Zweck die Szenariotechnik nach Geschka einzusetzen, ursprünglich konzipiert als Methode der strategischen Unternehmensplanung. Diese Methode setzte die Hochschule bereits erfolgreich in einem strukturell ähnlich gelagerten Projekt mit der Textilindustrie ein. Es entstand ein Szenario-Team bestehend aus Akteuren der Lederbranche und weiteren Stakeholdern, unterstützt durch die Hochschule Darmstadt, den Projektpartner Schader-Stiftung und die Unternehmensberatung Geschka & Partner.
Zwischen März und Juni 2019 entwickelte das Team Zukunftsszenarien zum Thema „Leder 2035“ im Hinblick auf den Einsatz von und den Umgang mit Chemikalien in den globalen Lieferketten. Sie identifizierten zunächst die 16 wichtigsten Einflussfaktoren (z.B. Rechtsrahmen, Transparenz, Prozessinnovation) für das Thema und bewerteten deren Wirkbeziehungen. Anschließend galt es, Projektionen, d.h. Entwicklungsperspektiven für die Einflussfaktoren, zu erarbeiten (z.B. 2035 wird der Rechtsrahmen für die Lederherstellung international stärker harmonisiert sein) und zu bewerten, ob die Projektionen zueinander konsistent sind (d.h. schließen sich projizierte Entwicklungen gegenseitig aus, unterstützen sie sich gegenseitig etc.). Auf dieser Datengrundlage ließen sich in einem weiteren Schritt, unterstützt durch eine spezielle Analyse-Software, vorhandene Projektionen zu Szenarien „Leder 2035“ zusammenstellen. Ergebnis des Szenario-Prozesses waren zwei im Gegensatz zueinander stehende, dabei zugleich in sich konsistente, Szenario-Geschichten: „Masse statt Klasse“ (Szenario A) sowie „Qualität durch Wertschätzung und Bewusstsein“ (Szenario B).
Szenario für Leder 2035 – Gemeinsame Vision für eine "Nachhaltigere Chemie in den Lederlieferketten"
Szenario A
Unter den gegebenen globalen Verhältnissen, d. h. einer wachsenden Nachfrage nach bezahlbarem Leder, das unter dem real existierenden Kostendruck nur eine standardisierte kostenoptimierte Massenware ermöglicht, dominiert 2035 die Lederindustrie homogene „billige“ Massenware, an die zugleich geringe Anforderungen an die Funktionalität des Leders sowie Qualität bestehen.
Szenario B
2035 haben Prozessinnovationen dazu geführt, dass sich überall qualitativ hochwertiges Leder in einer die natürlichen Ressourcen schonenden Weise produzieren lässt. Die Abnehmermärkte für derart produziertes Leder sind stabil. Die Risiken von Chemikalien in den Prozessen und Produkten sind weitgehend abgestellt oder unter Kontrolle.
Strategien entwickeln mit Vertretern der gesamten Lieferkette
Die Akteure des Szenario-Teams entschlossen sich gemeinsam dazu, durch entsprechende Maßnahmen darauf hinzuwirken, dass die in Szenario B beschriebenen Entwicklungen eintreten. Die h_da unterstützt diese Umsetzungsphase. Im September sowie im November 2019 erfolgten Strategie-Workshops in Darmstadt und Frankfurt mit den Akteuren aus dem Szenario-Team sowie weiteren Vertretern aus Industrie, Handel, Politikberatung und NGOs. Ausgangsfrage des Workshops im September war, welche Strategien und konkreten Maßnahmen erforderlich sind, um positive Entwicklungen entsprechend der Szenario-Geschichte B („Qualität durch Wertschätzung und Bewusstsein“) anzustoßen. In Arbeitsgruppen befassten sich die Teilnehmenden mit den zentralen Fragen, die die Szenario-Geschichte aufwirft, u.a.: Wie lassen sich Transparenz und Traceability unter Wettbewerbsbedingungen in die Umsetzung bringen? Wie lassen sich Standards (Arbeitsbedingungen, Chemikalien-Management etc.) harmonisieren, kontrollieren, sanktionieren und umsetzen? Zu diesen und zwei weiteren Fragestellungen entwickelten die Teilnehmenden jeweils strategische Herangehensweisen im Rahmen von „Roadmaps“: Mit der Perspektive bis 2035, dabei unter besonderer Berücksichtigung der kurzfristigen Perspektive (bis 2022), identifizierten sie Meilensteine, die es zu erreichen gilt, formulierten je Meilenstein konkrete Aktivitäten und benannten Akteure für die Umsetzung. Ein zweiter Workshop im November diente dazu, die Roadmaps mit weiteren Praktikern erneut zu diskutieren. Die in den Roadmaps formulierten Aktivitäten ergaben, einzeln oder in der Gesamtschau, bereits tragfähige Ideen für Teilprojekte auf dem Weg zur Szenario-Geschichte.
Strategieentwicklung für "Nachhaltigere Chemie in den Lederlieferketten" bis 2035
Fahrplan für die Systeminnovation
Die Methode der „Theory of Change“ stellt ein nützliches Werkzeug für die Gestaltung („Fahrplan“) und das Monitoring von Systeminnovationen dar. Sie ermöglicht es, strukturiert Einzelschritte und Teilmaßnahmen im Kontext zu erfassen sowie unter Beachtung der jeweiligen Wirkbeziehungen zu sehen. In der Theory of Change (ToC) lassen sich Aktivitäten und erwartete Effekte verschiedenen Sphären zuordnen. So lässt sich die Sphäre des direkten Projektrahmens definieren, innerhalb dessen konkrete Aktivitäten erfolgen (Workshops, Studien etc.) und Produkte entstehen (technische Innovationen, Politikberatung etc.). Nur in dieser Sphäre, die im Kern der ToC angesiedelt ist, verfügen die Projektbeteiligten über eine weitgehende Kontrolle. Inwieweit die Praxis diese Projektergebnisse aufnimmt, d.h. Akteure ihr Verhalten anpassen in Richtung einer Nachhaltigen Entwicklung, ist Gegenstand von weiteren, darum herum liegenden Sphären. Diese entziehen sich mit zunehmender Entfernung vom Kern weitgehend der Kontrolle durch das Projekt. Ursächlich dafür ist u.a., dass die intendierten Wirkungen eines Projekts sich oftmals erst nach dessen aktiver Laufzeit einstellen (können) und dass das System angewiesen ist auf parallel verlaufende Entwicklungen, die jedoch nicht Gegenstand des Projekts sind. Vor diesem Hintergrund erweitert die ToC die Perspektive über die unmittelbar bearbeitbaren Aspekte eines Projektes und schließt parallele Entwicklungen mit Blick auf die übergeordnete Zielorientierung mit ein. Zusammenfassend übernimmt die ToC mehrere Funktionen, indem sie zum einen strukturbildend ist und systemische Schwachstellen im Projekt aufzeigt. So liegt bereits der Entwicklung einer ToC ein iterativer Prozess zugrunde, der Maßnahmen und Projekte relativ zur ihren Wirkweisen reflektiert und nötige vorgeschaltete Maßnahmen sichtbar macht. Zum anderen eignet sie sich als Kommunikationswerkzeug, da sie komplexe Transformationsprozesse auf das Wesentliche reduziert verdeutlicht. Schließlich eröffnet sie Ansatzpunkte, um Indikatoren für die Projekt-Performance zu entwickeln. Nachfolgend ist daher eine Theory of Change für "nachhaltigere Chemie" in den Lederlieferketten illustriert (die ToC als PDF finden Sie hier).
Angestrebtes Szenario für 2035: Es haben Prozessinnovationen dazu geführt, dass sich überall qualitativ hochwertiges Leder in einer die natürlichen Ressourcen schonenden Weise produzieren lässt. Die Abnehmermärkte für derart produziertes Leder sind stabil. Die Risiken von Chemikalien in den Prozessen und Produkten sind weitgehend abgestellt oder unter Kontrolle.
Veränderte gesellschaftliche und politische Rahmenbedingungen können den Grundstein dafür legen, dass sich auch die Arbeitsbedingungen an den Produktionsstandorten weltweit verbessern. Das Thema „nachhaltigere Chemie“ wäre also ein zentraler Treiber, um auch soziale Faktoren voranzubringen.
Die normativen Impulse gehen einher mit dem politischen Willen, über geeignete Vollzugsmaßmanen die Durchsetzung der rechtlichen Anforderungen zu gewährleisten. Dies ist notwendig, wenn ein hohes Schutzniveau von Mensch und Umwelt sicherzustellen an allen Standorten weit oben auf der politischen Agenda steht. Zudem sollten Staaten das Engagement von Unternehmen honorieren, die ihren Sorgfaltspflichten nachkommen.
Vertikale und horizontale Kooperationen auf Augenhöhe, eine damit verbundene gesteigerte Offenheit – nicht nur hinsichtlich der eingesetzten Chemikalien – sowie eine stärkere Beachtung von Sorgfaltspflichten kennzeichnen einen „Kulturwandel“ in den Lederlieferketten.
Die verschiedenen neuen Ansätze (z.B. zu Prozesschemikalien, Lieferkettenmanagement etc.) führen zu nachhaltigeren Produktionsweisen.
Veränderte Produktionsprozesse und Sourcing-Routinen ermöglichen eine wirtschaftlich tragbare Entwicklung von Produkten die sich an den Zielen einer Nachhaltigen Entwicklung orientieren. Hierzu zählt auch die Sicherstellung der Einhaltung sowie die Aktualisierung von Standards, die als Indikatoren einer Nachhaltigen Entwicklung dienen.
Sind Verbraucher sensibilisiert für und informiert über die Folgen ihrer Konsumentscheidungen, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass sich ihre Konsumweisen „nachhaltiger“ entwickeln. Diese umfassen neben der eigentlichen Kaufentscheidung auch Fragen zu Pflege und Instanthaltung, Wiederverwendung und Entsorgung der Waren. Damit verbunden verändert sich auch das entsprechende Informationsinteresse und Nachfrageverhalten.
Gesetzgeber weltweit müssen weitere Maßnahmen ergreifen, damit die Lieferkettenakteure eine „nachhaltigere Chemie“ einsetzen und weitere Sorgfaltspflichten erfüllen. Die Europäische Union könnte dabei ein wichtiger Impulsgeber sein. 2020 bereitet sie Vermarktungseinschränkungen für weitere Chemikalien vor (sensibilisierende Stoffe in Leder). Parallel verfolgt sie mit dem Ziel einer Kreislaufwirtschaft einen strategischen Ansatz, der konkrete Maßnahmen vorsieht (Tracking-Systeme, Produktverantwortung), um problematische Chemikalien aus den Stoffströmen zu entfernen. Erforderlich wäre, dass Gesetzgeber an allen Standorten die Vorgaben an Produkte und Produktionsprozesse auf einem anspruchsvollen Niveau angleichen. (Geplante) Gesetze wirken zudem als Treiber für Harmonisierungsaktivitäten in der Lederbranche.
Akteure wie NGOs, Presse, Medien und bestimmte Verbrauchergruppen erlangen mehr Wissen über den Einsatz von und den Umgang mit Chemikalien in den Lederlieferketten. Auf dieser Grundlage können Sie den Druck steigern, sowohl in Abnehmerländern als auch an Produktionsstandorten, auf Unternehmen und auf Gesetzgeber, eine „nachhaltigere Chemie“ sicherzustellen.
Gemeint sind Verhaltensänderungen, die sich indirekt auf den Einsatz von Chemikalien auswirken. So können regionaler ausgerichtete Lieferketten den Bedarf an Konservierungsmitteln reduzieren und innovative Geschäftsmodelle die Langlebigkeit von Produkten erhöhen (etwa über Product as a Service“-Ansätze).
Innovationen bei den Chemikalien als solchen, bei den Herstellverfahren der Chemikalien sowie bei den Prozessen, in deren Rahmen sie eingesetzt werden, sind ein weiterer zentraler Baustein einer „nachhaltigeren Chemie“.
Chemikalien in Prozessen und Produkten nachverfolgen zu können, ist ein zentraler Baustein für eine „nachhaltgiere Chemie“. Hierzu bedarf es branchenweiter Kommunikationsstandards (IT-Lösungen, Berichtspflichten etc.), damit sich der Aufwand für Lieferanten reduziert (Grundsatz: Einmal Daten eingeben, mehrfach an unterschiedliche Kunden berichten) und der Fokus auf die Qualität der Daten gerichtet werden kann.
Eine „nachhaltigere Chemie“ erfordert, dass Akteure besser kooperieren. Dazu zählt auch, dass sie offener mit dem Thema Chemikalien in Prozessen und Produkten umgehen: sie teilen nicht mehr nur die unabdingbaren Minimalinformationen, sondern kommunizieren transparent, um gemeinsam ihre Ziele zu erreichen. Auch gilt es, auf die Anreize und Hemmnisse der Lieferanten einzugehen.
Die Akteure an den Produktionsstandorten müssen verbesserte Fähigkeiten und Möglichkeiten erlangen, um auf eine „nachhaltigere Chemie“ hinwirken zu können. Dies umfasst Investitionen in die produktionsseitige Infrastruktur sowie in die Ausbildung. Auch der Einsatz neuer Technologien und barrierefreier didaktischer Tools, kann die Kompetenzbildung insbesondere von bildungsschwachen Nutzern unterstützen.
Veränderte Produktentwicklungsprozesse beschreiben Strategien, die bereits in frühen Phasen der Entwicklung und im gesamten Entwicklungsverlauf zentrale Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung als steuernde Faktoren berücksichtigen. Basis hierzu stellen etablierte Standards und Indikatoren für nachhaltigere Produktionsprozesse und Produkte dar. Damit verbunden ist ein iterativer Optimierungsprozess, der kontinuierlich Fragen zu Sourcing, Arbeitsbedingungen, aber auch Schadstoffen, Gebrauchsweisen und Entsorgungsmöglichkeiten adressiert.
Gemeint sind neue bzw. angepasste Sourcing-Strategien, die ein besonderes Augenmerk auf Aspekte der Transparenz und Rückverfolgbarkeit sowie allgemeine Kriterien bezüglich der Belastung von Mensch und Umwelt legen. Letztlich führt ein solches Einkaufsverhalten in der Lieferkette zu Ausschreibungen und Angeboten, die Aspekte einer nachhaltigen Entwicklung bereits in der Spezifikation von Rohware und Halbzeug aufführen.
Maßnahmen auf verschiedenen Kanälen (z.B. Onlineportale und Vortragsreihen) erhöhen zunächst die subjektive Relevanz von Themen einer nachhaltigen Entwicklung bei Verbrauchern. Hieraus entwickelt sich eine wachsende Sensibilisierung.
Die niederschwellige und barrierefreie Bereitstellung von Informationen bezüglich der Produkteigenschaften und Hintergründe in Bezug zu einer nachhaltigen Entwicklung können am PoS die stärkste Wirkung entfalten.